Wonach suchst du?

Besten Blick über die Moor- und Heidelandschaft bietet der Aussichtsturm im Nationalpark Lahemaa / © istockphotos: Le Manna

Über 1000 Kilometer zu Fuß durchs Baltikum

von Heidi Witzmann

Eine Frau, ein Weg: Über 1000 Kilometer auf dem Baltic Forest Trail von Tallin nach Riga

Die Anderswo-Autorin Heidi Witzmann suchte die Einsamkeit und ganz viel Natur. Beides – und noch viel mehr – fand sie auf dem Baltic Forest Trail, der sich über 1000 Kilometer durch Estland und Lettland zieht. Für Anderswo hat sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben:

Warmes, sonnengelbes Licht durchflutet mein Zelt – und weckt mich, wie so oft in den letzten Wochen, viel zu früh. Doch wenn es erst einmal hell ist, hält es mich nicht mehr lange im kuscheligen Schlafsack, dann zieht es mich raus, Müdigkeit hin oder her. Jeden Morgen an einem anderen Ort, jeden Morgen in einer anderen Stimmung. Als ich die Zeltplane zurückschlage und in die Wanderstiefel schlüpfe, tropft mir eine Mischung aus Tau und Kondenswasser unsanft in den Nacken. Mein missmutiges Grummeln darüber verstummt rasch: Vor mir liegt einer der zahlreichen zauberhaften estnischen Waldseen, von dem nach heftigen Regenfällen gestern Abend leichter Nebel aufsteigt. Glücklich krieche ich endgültig aus meiner ultraleichten grünen Behausung und starte voller Vorfreude in einen neuen Wandertag.

Auf 1.060 Kilometern führt der Baltic Forest Trail von Tallinn nach Riga. Er durchstreift die waldreichsten Gebiete der beiden nördlichen baltischen Staaten Estland und Lettland, führt vorbei an Seen und Flüssen und durch Moore und jede Menge tiefe Wälder. „Das ist dein Trail“, strahlte meine Freundin Antje mich vor gut einem Jahr an und drückte mir eine schicke moosgrüne Broschüre in die Hand. Gerade war sie von einem Roadtrip durchs Baltikum zurückgekommen – und hörte gar nicht mehr auf zu schwärmen: von Zeltplätzen inmitten wunderschöner Natur und von Tierbeobachtungen, wie sie in Deutschland kaum möglich sind.

Wilde Natur, Wälder, Seen und absolute Einsamkeit: Was für andere einschüchternd wirken könnte, klang für mich rundum verlockend. Schnell war klar: Mein Sommerprojekt 2022 würde mich nach Estland und Lettland führen und mich zur ersten Weitwanderung meines Lebens herausfordern.

Im jüngsten Nationalpark Estlands unterwegs

Etwas Blaues blitzt neben mir auf – und verschwindet flatternd irgendwo weiter hinten im Wald. War es ein großer Schillerfalter? Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Schmetterlinge gesehen wie hier! Manchmal komme ich beim Wandern kaum voran, weil ich mich ständig zur Vegetation bücken und einen Falter mustern muss. Nach zwei Wochen auf Straßen und Pfaden entlang der Küste habe ich vor wenigen Tagen den Alutaguse-Nationalpark erreicht, den jüngsten Nationalpark Estlands im Nordosten des Landes. Sandige Wurzelwege führen durch hügelige Kiefernwälder, der Waldboden ist bedeckt mit Zwergsträuchern aus Heidel– und Preiselbeeren. Dazwischen winzige Walderdbeeren mit dem intensivsten Aroma, das man sich vorstellen kann. Zwischen den Bäumen schimmert das Blau des nächsten kleinen Waldsees. Fluffige Wollgras-Puschel zieren den torfigen Uferstreifen. Als ein Rastplatz in Sicht kommt  –  wie immer bestens gepflegt und menschenleer – schlüpfe ich schnell aus meiner verschwitzten Wanderhose. Eine Badepause kommt zur Mittagszeit gerade recht. Während ich danach im Halbschatten am Ufer liege und in die weißen Wolken schaue, denke ich an die Erlebnisse des gestrigen Tages. Kommt die Gänsehaut auf meinen Unterarmen vom leichten Wind über dem See oder von den lebendigen Erinnerungen an die Erlebnisse in der Bärenhütte?

Bären beobachten

„Manchmal tauchen die Bären unmittelbar auf, wenn wir die Hütten bezogen haben. Meistens aber gegen 20 Uhr“, hat die Expertin von NaTourEst bei ihrer kurzen Einführung in das „Abenteuer Bärenbeobachtung“ erzählt. Konzentriert suche ich mit dem Fernglas den Waldrand vor mir ab und schaue skeptisch auf das Display meines Handys: Es ist 21:20 Uhr und das Tageslicht schwindet allmählich. Geduldig lehne ich mich im Stuhl der geräumigen Beobachtungshütte zurück, die NaTourEst als Organisation für Naturerlebnis-Touren in den dichten Wäldern des Alutaguse-Nationalparks betreibt. Die Hütte ist so angelegt, dass die Beobachtenden zwar die Bären sehen, diese aber völlig ungestört von den Menschen bleiben. Das Ziel dieser und ähnlicher Beobachtungsstationen: mehr über die Tiere, ihre Gewohnheiten und Lebensräume zu vermitteln und so die Motivation für den Tier- und Naturschutz zu erhöhen.

Einen Abend, eine Nacht und einen Morgen beobachte ich – und lausche den Geräuschen der Natur. Über die Außenmikrofone hallt das Summen einer Biene oder das Flattern einer Kohlmeise im Inneren der Hütte wider. Ich ertappe mich dabei, wie ich gähne und sehnsuchtsvoll zur weichen Matratze auf dem Stockbett hinüber schiele. Doch der Anflug von Müdigkeit vergeht schlagartig, als meine Hüttenpartnerin Nico gedämpft von der anderen Seite der Hütte ruft: „Heidi! Komm schnell, er ist hier drüben!“ Und tatsächlich! Direkt auf die Hütte zu zieht ein riesiger und dennoch irgendwie plüschig anmutender Braunbär. Mit seiner feinen Nase schnuppert er, ob die Luft rein ist, und fühlt sich sichtlich wohl auf der Waldlichtung. Mal kratzt er sich in typischer Bärenmanier mit dem Hinterteil am nächsten Baumstamm, dann legt er sich unvermittelt ins hohe Gras und kaut geräuschvoll an einer Wurzel. Die lustigsten Geräusche gibt er beim Trinken von sich. Ich hatte keine Ahnung, dass Bären derart schlabbern, schlürfen und schmatzen!

Zwei Stunden lang haben wir das Vergnügen, diesen beeindruckenden Bären beobachten zu dürfen. In der Dunkelheit der Nacht verschwindet er irgendwann so plötzlich, wie er aufgetaucht ist. Spätestens jetzt weiß ich, dass meine anfänglich ab und an aufflackernde Sorge, mich könnte auf meiner Wanderung nachts ein Bär heimsuchen, völlig unbegründet war. Zwar gibt es in Estland mehr als 600 Braunbären, doch sind sie sehr scheu und machen dank ihres exzellenten Geruchssinns einen großen Bogen um Orte mit menschlichen Duftnoten. Einen Bären zu sehen, ist also ein Glücksfall. Für mich ist mit der Nacht in der Bärenhütte ein Traum in Erfüllung gegangen.

Wilde Flusstäler im Südosten Estlands

Im Südosten Estlands zeigt sich der Trail von einer besonders reizvollen Seite: In wenigen Tagen durchwandere ich nicht nur wilde Flusstäler in der Region Setomaa und erklimme im hügeligen Haanja Upland den mit 318 Metern höchsten Berg Estlands, sondern tauche so tief in Geschichte, Kultur und Tradition ein wie nirgendwo sonst auf meiner Reise.

Nachdem ich über lange Wegstrecken keinem anderen Wanderer begegnet bin und die Einsamkeit in der Natur sehr genossen habe, freue ich mich nun doch über Kontakte und Begegnungen. Besonders beeindruckt mich ein Erlebnis in Obinitsa, dem kulturellen Zentrum der ethnischen Minderheit der Seto-Bevölkerung in Estland. Vor einem grünen Holzhaus mit der Aufschrift „Kunstgalerie“ sitzt eine ältere Frau in Tracht gekleidet vor einer Wanne und putzt Blaubeeren. Auf meine Frage, ob ich ihre Galerie besuchen könne, springt sie emsig auf und gibt mir sofort eine Führung. Ihr Haus mit einer eindrucksvollen Sammlung farbenprächtiger Stoffe und einer Ausstellung mit handgefertigtem Silberschmuck, der für die traditionelle Kleidung der Frauen typisch ist, erzählt die Geschichte ihrer Familie und zeugt vom Stolz auf die eigene kulturelle Identität.

Tartu, Kulturhauptstadt 2024

Nachdem ich gute fünf Wochen auf dem Trail unterwegs bin, meldet sich erstmals mein Körper: Meine Waden machen nicht mehr mit und fordern eine Pause. Ich entscheide mich für einen Zwischenstopp in Tartu. Die zweitgrößte Stadt Estlands nahe der russischen Grenze bereitet sich darauf vor, 2024 Europäische Kulturhauptstadt zu werden. Drei Tage lang genieße ich das quirlige Leben in der Universitätsstadt, bevor ich mich wieder in die Natur stürze.

Einige Tage und ein paar Blasen später erreiche ich eine denkwürdige Station auf meiner langen Wanderung: die Grenze zu Lettland. Zur Feier des Tages habe ich eine Nacht „Glamour-Camping“ gebucht. Nach einer langen Etappe wartet am Ende einer staubigen Schotterstraße meine Gastgeberin Rasa auf mich. Sie hat hier, in einer der ursprünglichsten Regionen Lettlands, ihr Herzensprojekt umgesetzt: Outdoor-Küche, Badetonne und drei Glamping-Zelte inmitten von Wiesen und Weiden.

Nach einer wohltuenden Dusche lerne ich echte lettische Gastfreundschaft kennen. Rasas Einladung zu einem leckeren traditionellen Essen mit selbstgesammelten Pilzen aus Lettlands Wäldern folgt ein fröhlicher Abend mit Freunden und Gästen. Ich lerne die beiden wichtigsten lettischen Wörter „Labdien“ und „Paldies“ (Guten Tag und Danke), dass die Winter hier richtig schneereich sind und dass Wandern erst seit Corona überhaupt ein Thema in der Bevölkerung ist. Kein Wunder, dass ich auf 700 Kilometern nur einen einzigen Wanderer getroffen habe.

Nach einer Nacht im riesigen Bett zwischen weichen Kissen und Decken wecken mich am nächsten Morgen Kranichrufe aus dem Moor nebenan, das Licht fällt weich durch die halb geöffnete Zelttür. Mit einer duftenden Tasse Kaffee in der Hand beobachte ich von der Veranda aus junge Weißstörche bei ihren ersten Flugübungen. Ein Blick auf die Übersichtskarte des Trails verrät: Ab hier sind es noch 330 Kilometer bis zum Ziel. Plötzlich scheint es realistisch, Riga tatsächlich zu Fuß zu erreichen.
Im Weitwander-Modus

Lahemaa- und Gauja-Nationalpark

„Wenn ich es bis zum Lahemaa-Nationalpark schaffe, kann ich schon echt stolz auf mich sein.“ Diesen Satz habe ich an einem der ersten Wandertage in mein Wandertagebuch geschrieben. Den genannten Küsten-Nationalpark in Estland habe ich allerdings schon vor vier Wochen und 600 Kilometern hinter mir gelassen. Irgendwann bin ich, ohne es zu merken, in den Weitwander-Modus gerutscht, habe mir Zwischenziele gesteckt und auch bei Schwierigkeiten durchgehalten. All die ewig langen Schotterstraßen, auf denen mich regelmäßig wenig rücksichtsvolle Holztransporter in Staubwolken hüllten, die heftigen Gewitter am riesigen Peipus-See an der russischen Grenze, die mich gehörig Nerven gekostet haben, und die Heerscharen an Mücken, die sich so oft in den Pausen auf mich stürzten. Blasen habe ich gekonnt ignoriert, verkrampfte Waden und Schulterschmerzen mit Arnika-Salbe bekämpft. So eine Weitwanderung ist kein Spaziergang: Sie lehrt Demut und fordert mich mental und körperlich bis zum Äußersten.

Dass sich die Strapazen lohnen, beweist der Gauja-Nationalpark auf eindrucksvolle Weise: Er ist der krönende Abschluss meiner Reise. Auch wenn das Urstromtal in Paddlerkreisen weitaus bekannter sein dürfte – hier kommen auch Wanderer voll auf ihre Kosten. Schmale Pfade folgen dem gewundenen Flussbett. Mal geht es flott durch lichte Kiefernwälder, die Beerensammler und Pilzenthusiasten in Begeisterung stürzen, dann wieder verlangen mir steile Treppen und ständiges Auf und Ab am dicht bewachsenen Ufer einiges ab. Sprudelnde Quellen füllen meine Trinkflaschen in Sekundenschnelle und Burgen am Rande mittelalterlicher Städtchen sorgen für eine kulturelle Ergänzung des Natur-pur-Erlebnisses. Mein Zelt schlage ich jeden Abend an einem der einfachen Rastplätze direkt am wilden Fluss auf und nachts schaue ich staunend in den Sternenhimmel über der riesigen Sandsteinwand gegenüber. Immer wieder flitzen in den Pausen Eisvögel an mir vorbei. Ein paar Meter flusswärts bettelt auf den großen Steinen im Wasser ein junger Flussuferläufer um Futter. Es hätte keinen schöneren Abschluss der Wanderung geben können.

Als ich ein paar Tage später an Deck der Fähre zurück nach Travemünde zusehe, wie sich die Sonne langsam über die fast spiegelglatte Oberfläche der Ostsee schiebt, weiß ich, dass ich gerade das größte Abenteuer meiner noch jungen Wanderlaufbahn beende. Und eins ist sicher: Ich werde zurückkehren – in diese beiden Länder voll wunderschöner Natur und gelebter Tradition.

 

Tipps zur Reiseplanung

Anreise

Von Travemünde mit der Fähre nach Liepaja und mit dem Bus weiter nach Riga (Lettland) oder mit der Fähre über Helsinki (Finnland) nach Tallinn (Estland). Busfahren in Estland und Lettland ist sehr günstig und sehr komfortabel, das Netz ist selbst auf dem Land hervorragend. Anreise, Tipps, Preise & Tickets: Anreise nach Estland

Wandern auf dem Baltic Forest Trail

Der Baltic Forest Trail ist Teil des europäischen Fernwanderweges E11. Auf 1.060 Kilometern führt er von Tallinn nach Riga – oder andersherum. Er lässt sich durch Litauen bis nach Lazdijai an der polnischen Grenze auf 2.141 Kilometer verlängern. Neben dem Baltischen Waldwanderweg gibt es auch den Baltischen Küstenwanderweg, der immer der Ostsee folgt. www.baltictrails.eu/de

Veranstalter

Hier gibt es Angebote zu Naturerlebnis und Tierbeobachtungen im Nationalpark

Der Reiseveranstalter Baltikumreisen bietet zahlreiche Reisen mit Schwerpunkt Botanik und Tierbeobachtung an, außerdem Wander- und Aktivreisen u. a. für Singles.

Eine 10-tägige Wanderrundreise zu den schönsten Naturräumen Estlands gibt es beim Reiseveranstalter Innatoura

Eine Familienreise nach Estland inklusive Übernachtung in der Bärenhütte bietet der Reiseveranstalter ReNatour

Wer das Baltikum per Rad erkunden möchte, findet interessante Angebote bei Masuren Aktivurlaub

Baltikum ja, aber gerne etwas bequemer: Busreiseveranstalter Avanti bietet eine 15-tägige Baltikum-Busrundreise an.

Zelten & Übernachten

Wild zelten für eine Nacht wird in Estland und Lettland außerhalb von Schutzgebieten toleriert. Wir empfehlen aber einfache Rastplätze, die oft mit Feuerstelle und Trockentoilette ausgestattet sind. In Estland hilft die App „RMK Loodusega koos“, in Lettland für den Gauja-Nationalpark die App „Dabas turisms“.

Die Autorin

Heidi Witzmann ist 27 Jahre alt. Sie hat Umwelt­management studiert und arbeitet in einem NABU- Zentrum an der Ostsee. Da es hier in der Hauptsaison vor Menschen nur so wimmelt, genießt sie es immer wieder, sich in einsame Naturregionen zurückzuziehen und dort selbst Tiere zu beobachten. Wälder und Seen sind ihre Leidenschaft. Eine Reise ins Baltikum und in die dortigen Nationalparke war ein lange gehegter Wunsch. Ans Wandern hat sich die Natur­liebhaberin auf kürzeren Touren in Deutschland heran­getastet. Dass sie die über 1.000 Kilometer zu Fuß durch Estland und Lettland wirklich schaffen würde, wurde ihr erst im Laufe der Wanderung so richtig klar. Ein großer Vorteil: das hervorragende Bussystem in den baltischen Ländern, das den Ausstieg aus der Tour überall ermöglicht hätte. Eine große Hilfe war auch der sehr detaillierte Wanderführer, der alle Übernachtungs- und Einkaufsmöglichkeiten auflistet und so auch spontane Planänderungen zulässt. Heidi war in den Monaten Juni bis August unterwegs.